Kurt Bauer: Hitler, Mussolini, Dollfuß

Die gesamteuropäische Entwicklung und der NS-Putsch vom 25. Juli 1934

Die autoritäre Entwicklung in Österreich hin zum sogenannten Ständestaat ist das – nicht notwendige und unausweichliche, aber folgerichtige – Ergebnis der krisenhaften innenpolitischen Vorgänge der Ersten Republik. Nicht weniger muss man zur Bewertung der Vorgänge von 1933/34 die außenpolitische Entwicklung in den Blick nehmen. Das gilt vor allem auch für die Vorgeschichte und die Hintergründe des 25. Juli 1934, die man überhaupt nur aus gesamteuropäischer Perspektive verstehen kann. Der nachfolgende Beitrag wird kurz und notgedrungen unter Auslassung wesentlicher Details die Entwicklung skizzieren, die zum NS-Putschversuch und zum Tod des „Kanzlerdiktators“ Engelbert Dollfuß führte.

Hitlers außenpolitisches Konzept

In seinem auf sozialdarwinistisch-rassistischen Zwangsvorstellungen beruhendem außen­politischen Denken ging Hitler von zwei natürlichen Bündnispartnern in Europa aus: England und Italien. Hitlers Überzeugung nach lagen die Interessen Englands in Übersee und jene von Italien im Mittelmeerraum, während Deutschland sich nach Osten orientierte, um sich dort „Lebensraum“ zu schaffen. Aus diesem Grund müsse es niemals, jetzt und in Zukunft, zu einem Konflikt Deutschlands mit Italien kommen. Frankreich dagegen, wie Italien auf das Mittelmeer ausgerichtet, sei dessen angeborener Feind. Es würde nicht davor zurückschrecken, in der Abwehr italienischer Ansprüche durch ein geschicktes „System von Bündnissen“ Italiens Handlungs­spielraum einzuschränken. Italien könnte dann gezwungen sein, sich der französischen Hegemonie unterzuordnen.

In einer 1928 entstandenen, wohlweislich nicht veröffentlichten außenpolitischen Programmschrift („Hitlers Zweites Buch“) heißt es: „Es soll ein französisches Staatensystem gebildet werden, das von Paris über Warschau, Prag, Wien bis nach Belgrad reicht. Der Versuch, Österreich in dieses System einzubeziehen, ist keineswegs so aussichtslos, als auf den ersten Blick scheinen mag.“ Denn Wien würde wegen seines „kosmopolitischen Wesens“ prinzipiell zu Frankreich neigen. „Gelingt es Frankreich aber, Österreich in die Kette seiner ‚Freundschaft‘ einzufügen, dann wird Italien eines Tages zu einem Zweifrontenkrieg gezwungen sein, oder es wird einer wirklichen Vertretung der Interessen des italienischen Volkes eben doch wieder entsagen müssen. In beiden Fällen besteht die Gefahr für Deutschland, dass ein möglicher Bundes­genosse auf unabsehbare Zeit für Deutschland endgültig ausscheidet und Frankreich damit immer mehr zum Herrn der Geschicke Europas wird.“

Im Dezember 1932 schrieb Hitler, Deutschland stünde „mitten in einer neuen Einkreisungs­politik“. Ein kommendes Bündnis zwischen Frankreich und Russland sei ebenso wahrscheinlich wie ein Präventivkrieg Frankreichs gegen Deutschland, um dessen erfolgreiche Wiederaufrüstung rechtzeitig zu unterbinden. Ähnliche Befürchtungen äußerte er in einer Geheimrede am 3. Februar 1933, in der der neue Reichskanzler Hitler der Reichswehrführung seine Aufrüstungs- und Expansionspläne für die kommenden Jahre offenherzig darlegte: „Wie soll pol. Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Mögl., vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germanisierung. […] Gefährlichste Zeit ist die des Aufbaus der Wehrmacht. Da wird sich zeigen, ob Fr[ankreich] Staatsmänner hat; wenn ja, wird es uns Zeit nicht lassen, sondern über uns herfallen (vermutlich mit Ost-Trabanten).“

Außenpolitische Entwicklungen 1933/34

Im Oktober 1933 trat Nazideutschland aus dem Völkerbund aus und schloss im Jänner 1934 in Umkehrung seiner bisherigen Ostpolitik einen Nichtangriffspakt mit Polen. Zudem wurde im Frühjahr 1934 die Ausrichtung der deutschen Handelspolitik in Richtung Südosteuropa und das Streben nach einem von Deutschland beherrschten mitteleuropäischen Großraum deutlich sichtbar.

Am 9. Februar 1934 wurde der 72-jährige Louis Barthou neuer Außenminister in Frankreich. Er galt als Kenner und Freund deutscher Geisteskultur. Zugleich aber war er ein Hardliner, dem der Versailler Vertrag noch zu mild ausgefallen war. Er durchschaute Hitlers Absichten und sprach es öffentlich unverblümt aus: Hitler spreche von Frieden, bereite aber den Krieg vor. In Reaktion auf die bisherige Entwicklung setzte Barthou energische Schritte zur Schaffung einer Eindämmungsfront gegen Hitler. Er sorgte für eine Wiederbelebung der „Kleinen Entente“, bestehend aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien (Frankreichs „Ost-Trabanten“, wie Hitler sie genannt hatte). Und er intensivierte die französische Annäherung an die Sowjetunion, die bereits vor seiner Amtszeit begonnen hatte. Sein Ziel war ein Sicherheitspakt aller osteuropäischen Staaten („Ostpakt“) und der Abschluss von Beistandspakten mit Moskau und Rom.

Am 17. Februar 1934 – unmittelbar nach dem Februaraufstand, der zur Ausschaltung der österreichischen Sozialdemokratie geführt hatte – sprachen sich England, Frankreich und Italien in einer Erklärung gegen deutsche Einmischungen und für die Aufrechterhaltung der österreichischen Unabhängigkeit aus. Einen Monat später, am 17. März, wurden die „Römischen Protokolle“ unterzeichnet – ein Bündnis zwischen Italien, Österreich und Ungarn, das nicht nur die französischen Donauraumpläne, sondern auch die deutsche Expansion nach Südosteuropa empfindlich störte. Die deutsche Devisenlage spitzte sich 1934 derartig zu, dass Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht im Juni sämtliche Transferzahlungen ins Ausland aussetzen musste. Ein regelrechter Handelskrieg zwischen England und Deutschland schien Realität zu werden.

Mitte 1934 musste Hitler die außenpolitischen Entwicklungen für seine weitreichenden Pläne extrem bedrohlich finden. Deutschland, so schien es, war von Isolation, Einkreisung, womöglich sogar einer militärischen Intervention Frankreichs bedroht. Diese konnte gelingen, war Hitler überzeugt, sollte Paris es schaffen, Italien auf seine Seite zu ziehen – oder zu zwingen. So setzte er nun alles daran, mit Mussolini persönlich ins Gespräch zu kommen. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf einen Besuch Hitlers bei Mussolini in Venedig für Mitte Juni.

Italiens Haltung

Für die italienische Politik galt der Kleinstaat Österreich als Brückenkopf in den Donauraum und zugleich als Bollwerk gegen Deutschland. Durch den Erhalt der österreichischen Unabhängigkeit sollte die gefürchtete deutsche Hegemonie im zentraleuropäischen Raum verhindert werden. Seit Ende der 1920er Jahre versuchte Mussolini, auf die österreichische Innenpolitik im faschistischen Sinn Einfluss zu nehmen. Mit beträchtlichen finanziellen Mitteln förderte er die Heimwehrbewegung und ihre „Putsch-Bestrebungen“.

Engelbert Dollfuß, seit Mai 1932 österreichischer Kanzler, verhielt sich vorerst abwartend und distanziert gegenüber Mussolini. Ab Ende des Jahres 1932 kam es, gefördert durch Ungarn, zu einer vorsichtigen Annäherung. Und in der ersten Jahreshälfte 1933 geriet Dollfuß, der in der Zwickmühle zwischen Sozialdemokratie und Nationalsozialismus einen autoritären Kurs einschlug, immer stärker in Mussolinis Fahrwasser. Mitte Juni 1933 wurde die NSDAP in Österreich verboten. Ab dieser Zeit nahm der „Duce“ massiv Einfluss auf die Vorgänge in Österreich und drängte Dollfuß in Richtung offener Diktatur. In dieser Phase waren es vor allem die immer brutaler werdenden Terroraktionen verbotenen Nationalsozialisten, die das Verhältnis zwischen Mussolini und Hitler nachhaltig trübten. Sollte das Dollfuß-Regime fallen, fürchtete Mussolini, stünde Deutschland der Weg nach Südosten offen und Italien könnte vom Balkan verdrängt werden.

Im Grunde kann man in der italienischen Außenpolitik jener Jahre von einer Frontstellung zwischen einer pro-österreichischen (und damit auch pro-französischen) und einer pro-deutschen Richtung ausgehen. Beide Seiten rangen darum, bei Mussolini Gehör zu finden. Der aus Triest stammende Alt-Österreicher Fulvio Suvich, der als Unterstaatssekretär des Äußeren fungierte, stand für die eine, Mussolinis Schwiegersohn und Pressesprecher Galeazzo Ciano für die andere Richtung. Ciano trat offen für ein Bündnis mit NS-Deutschland und eine Abkehr von Frankreich ein. Seine Ernennung zum Außenminister im Juni 1936 sollte schließlich den Wechsel von einer auf Frankreich und England zu einer auf Deutschland ausgerichteten Außenpolitik markieren.

So weit war es 1934 noch lange nicht. Seit Anfang des Jahres tobte eine heftige, ganz offensichtlich von Deutschland aus gesteuerte NS-Terrorwelle in Österreich, die das deutsch-italienische Verhältnis schwer belastete. In den ersten Juniwochen erreichte die Gewaltwelle einen markanten Höhepunkt. Als in dieser Situation das unmittelbar bevorstehende Treffen zwischen Mussolini und Hitler bekannt wurde, löste das im Dollfuß-Regime regelrecht Alarm aus. Man befürchtete, Mussolini könnte in der Österreich-Frage Hitler substanzielle Zugeständnisse machen. Österreichs Gesandter Anton Rintelen wurde zu Suvich geschickt, um mit dem Verweis auf die Situation in Österreich eine Absage zu erwirken. Damit stieß man in Rom freilich auf taube Ohren.

Das Treffen von Venedig und die Reaktionen darauf

Von München kommend traf Hitler samt Gefolge am Vormittag des 14. Juni 1934 mit seiner Junkers D-2600 auf dem Flughafen San Nicolò bei Venedig ein. Mussolini war zum Empfang in vollem Wichs eines italienischen Generals erschienen. Hitler trug dagegen Zivil.

Bald nach dem Empfang fuhr man von Venedig in einem nahen Padua gelegenen Ort namens Stra. Etwas länger als zwei Stunden führten Mussolini und Hitler, im weitläufigen Park der Villa Pisani auf- und abgehend, ein erstes Gespräch. Man unterhielt sich unter vier Augen, ohne Dolmetscher. Mussolini sprach Deutsch. Danach ging es zurück nach Venedig, wo man das übliche Rahmenprogramm derartiger Treffen absolvierte. Am Vormittag des 15. Juni gab es einen großen Aufmarsch faschistischer Verbände auf dem Markusplatz. Nach dem Mittagessen fand am Lido ein zweites Vieraugengespräch statt. Es folgte eine große Rede Mussolinis, wiederum auf dem Markusplatz. Am Morgen des 16. Juni flog Hitler nach Deutschland zurück.

Über die Ergebnisse der Unterredungen gab es offiziell nur nichtssagende Kommuniqués: Die Staatsmänner hätten in großen Zügen die politische Lage besprochen und dabei weitgehend übereingestimmt. Feste Abmachungen seien von vornherein nicht geplant gewesen und auch nicht getroffen worden. Weitere persönliche Kontakte seien wünschenswert.

Die internationale Presse schwirrte von Gerüchten. Es hieß, Mussolini habe Hitler in der Österreich-Frage substanzielle Zugeständnisse gemacht und diesem gegen eine Bekräftigung des Anschlussverbotes die Ausschreibung von Neuwahlen und eine ihrer Stärke entsprechende Regierungsbeteiligung der NSDAP zugestanden. In der Baseler „National-Zeitung“ hieß es beispielsweise: „Es wird versichert, dass Italien den österreichischen Bundeskanzler ersuchen werde, Neuwahlen vorzunehmen. Über diesen Punkt weiß man nichts Genaues, doch glaubt man, dass solche Wahlen im Herbst stattfinden werden. Aus glaubwürdiger Quelle erfährt man, dass Hitler sich verpflichtet haben soll, auf den Anschluss zu verzichten […].“ Das NSDAP-Parteiblatt „Völkische Beobachter“ deutete am 17. Juni 1934 nichts weniger als den bevorstehenden völligen Umbau der österreichischen Regierung und die Bildung eines Kabinetts Rintelen an.

Was war tatsächlich besprochen und vereinbart worden? Wie die Akten zeigen, herrschte auf diplomatischer Ebene erstaunliche Unklarheit darüber. So etwa meldete der deutsche Botschafter aus Rom: Es herrsche eine gewisse „Meinungsdivergenz“ bezüglich des Gesprächs­ergebnisses. Im italienischen Außenministerium seien Aufzeichnungen über den Verlauf der beiden Unterredungen nicht vorhanden. Mussolini habe seine Umgebung nur mündlich knapp über die wesentlichsten Punkte unterrichtet. „Abreden im engeren Sinne“ seien nicht getroffen worden.

Hitler hatte seine eigene Sicht der Dinge. Näheres erfahren wir aus dem Goebbels-Tagebuch, einer unschätzbaren Quelle zum Verständnis der Hintergründe des Juliputsches. Der Propagandaminister traf am 17. Juni auf einen geradezu euphorischen Hitler. Er notierte in sein Tagebuch: „Mittags der Führer. […] Erzählt von Venedig. Mussolini von ganz großem Eindruck auf ihn. Beide haben sich freundschaftlichst ausgesprochen. […]“ Der erste und wichtigste Punkt der Unterredung mit Mussolini sei Österreich gewesen. Das Ergebnis: „Dollfuß weg! Neuwahlen unter einem neutralen Vertrauensmann. Einfluss der Nazis nach Stimmenzahl. Wirtschaftsfragen werden von Rom und Berlin gemeinsam erledigt. Beide einverstanden. Wird Dollfuß mitgeteilt werden.“ Ähnliches lässt sich anderen Quellen, etwas dem Tagebuch von Alfred Rosenberg, entnehmen.

Wie lassen sich die Auffassungsunterschiede über die Gesprächsergebnisse zwischen Deutschen und Italienern erklären? Was hatten Hitler und Mussolini tatsächlich vereinbart? – Zur Erinnerung: Die beiden Diktatoren hatten ohne Zeugen oder Dolmetscher unter vier Augen miteinander gesprochen, und zwar auf Deutsch. Es gibt eine Reihe substanzieller Hinweise, dass der eitle „Duce“ seine Deutschkenntnisse weit überschätzte. Und hier mag die Ursache der erwähnten „Meinungsdivergenz“ zu suchen sein: Mussolini hatte Hitler während des Gesprächs offensichtlich nicht in allen Details zu folgen vermocht, aber auch keinen Dolmetscher beiziehen wollen. Aus den Erinnerungen von Hitlers persönlichem Adjutanten Fritz Wiedemanns, der ihn 1934 auf seiner Italien-Reise begleitet hatte, geht hervor, dass es beim Gespräch im Park der Villa Pisani zu beträchtlichen Missverständnissen und Auffassungsunterscheiden kam, die auf Mussolinis mangelhaften Deutschkenntnissen zurückzuführen waren.

In der unklaren Situation nach der „Venediger Entrevue“ hielt Dollfuß es für angebracht, sowohl Mussolini als auch Hitler zu signalisieren, dass es für Österreich noch eine andere Option gab, die weder Italien noch Deutschland im Donauraum recht sein konnte. Sie lautete: stärkere Anlehnung an Frankreich, der zum damaligen Zeitpunkt stärksten Militär- und Kapitalmacht des europäischen Kontinents. Am Abend des 19. Juni gab es für Frankreichs Außenminister Barthou auf einer Bahnreise nach Bukarest einen kurzen Zwischenaufenthalt am Wiener Westbahnhof. Bei dieser Gelegenheit machte Kanzler Dollfuß Minister Barthou seine Aufwartung und führte ein ungefähr halbstündiges Gespräch mit ihm. Das Zusammen­treffen führte zu einem konkreten Ergebnis, nämlich einer Einladung an den österreichischen Bundeskanzler zu einem Besuch in Paris für September.

Es war nicht die erste außenpolitisch brisante Einladung die Dollfuß im Juni erhielt. Mussolini hatte schon vor dem Treffen mit Hitler eine Einladung an Dollfuß ausgesprochen: Dieser möge ihn samt Familie im Hochsommer besuchen und einige Tage in seinem Feriendomizil Riccione an der oberen Adria zu Gast sein. Dollfuß, hocherfreut, nahm dankend an. Die Begegnung wurde für Ende Juli fixiert.

Vorbereitungen und Planungen

Gut eine Woche nach seiner Italien-Reise war Hitler zweierlei bewusst geworden: Erstens, es gab in Italien Kräfte, die die Zugeständnisse in Bezug auf Österreich, die er in seinem Gespräch mit Mussolini erhalten hatte (oder erhalten zu haben glaubte), abschwächen und zunichte machen wollten. Zweitens, die angekündigten Auslandsreisen des österreichischen Kanzlers konnten sich außenpolitisch extrem ungünstig auswirken. Was, wenn Mussolini sich von Dollfuß wieder „umdrehen“ ließ? Lag es in dieser Situation nicht nahe, den Treffen von Riccione und Paris zuvorzukommen und mit Brachialgewalt die gewünschte Änderung der politischen Verhältnisse in Österreich zu erzwingen?

Folgerichtig begannen ab nun die konkreten Putschvorbereitungen zu laufen. Am 25. Juni fand in Zürich das erste, grundlegenden Treffen der vorgesehenen Führer des Putsches – Rudolf Weyden­hammer, Otto Gustav Wächter und Fridolin Glass – mit dem zuvor von Hitler instruierten Führer der österreichischen Nazis Theo Habicht statt.

Mit größter Wahrscheinlichkeit fasste Hitler den Beschluss für den Putsch gegen Dollfuß zur selben Zeit wie für die Aktion gegen die SA-Führung um Ernst Röhm. (Dieser beabsichtigte, die SA mit ihren rund viereinhalb Millionen Mitgliedern in eine Art Miliz- oder Volksheer umzuwandeln und der Reichswehr nur die Agenden der Ausbildung zu lassen, was bei den nationalkonservativen Partnern Hitlers auf entschiedene Ablehnung stieß.) Der innere Zusammenhang der Entscheidungen, die Hitler in der Woche nach Venedig fällte, ist jedenfalls auffallend. Es ging in beiden Fällen um die Sicherung von Hitlers langfristigen politischen Zielen: Aufrüstung, Wiedererringung der militärischen Stärke, Erlangung der Hegemonie in Zentraleuropa, Kampf um „Lebensraum“ im Osten. Dazu brauchte Hitler erstens eine professionell geführte, disziplinierte Wehrmacht, keine SA-Miliz, und zweitens benötigte er Verbündete, in erster Linie Italien. Wenn es gelang, den Störfaktor Österreich durch eine Gleichschaltung zu neutralisieren, war das in Hitlers Augen einzige echte Hindernis für ein Bündnis Deutschlands mit Italien aus dem Weg geräumt.

Wie sollte der Putsch konkret ablaufen? Der Plan, die österreichische Regierung während einer Ministerratssitzung durch einen Handstreich gefangen zu nehmen und auf diese Art einen Regierungswechsel zu erzwingen, war bereits im Sommer 1933 von NS-Parteigängern in Kreisen der Wiener Polizei entwickelt worden. Integraler Bestandteil des Putschplanes war es zudem, dass die illegale SA auf lokaler und regionaler Ebene „spontan“ in Aktion treten und die Österreichische Legion (eine SA-Truppe, die in Deutschland aus NS-Flüchtlingen gebildet worden war) über die österreichische Grenze vordringen sollte.

Im Grunde handelte es sich um die Umsetzung der Vorstellungen, die Hitler im Vieraugengespräch mit Mussolini in Stra entwickelt hatte: Rücktritt der österreichischen Regierung, Einsetzung eines NS-freundlichen Christlichsozialen – immer wieder wurde schon im Vorfeld der Name Anton Rinteln lanciert –, Beteiligung der Nationalsozialisten an der neuen Regierung, Durchführung von Neuwahlen, Zusammensetzung der neuen Regierung auf Basis der Wahlergebnisse. Wichtig: Von einem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sollte vorläufig keine Rede sein. Hitler strebte vorerst die „Gleichschaltung“ des formell unabhängig bleibenden Nachbarlandes an. Damit, so meinte er, wäre der einzige Konfliktpunkt mit Italien – nämlich die Österreich-Frage – bereinigt, und einer engen Zusammenarbeit der beiden Staaten stünde nichts im Wege. Solcherart gestärkt und gesichert wollte er seine Aufrüstungspolitik weiter betreiben. Die Frage des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, der für ihn außer Frage stand, würde zur gegebenen Zeit gelöst werden.

Übrigens deutet nichts darauf hin, dass die Nationalsozialisten beabsichtigt hätten, Bundeskanzler Dollfuß zu ermorden. Vielmehr wollte man ihn „in Ehren kaltstellen“ und auf einen Ehrenposten abschieben, zum Beispiel als Gesandten in den Vatikan.

Am 30. Juni 1934 kam es in Deutschland zu den blutigen Vorgängen, die als „Röhm-Putsch“ bekannt sind, bei denen es sich aber in Wahrheit um einen Schlag Hitlers gegen den mächtigen SA-Stabschef Ernst Röhm, dessen Führungsclique in der SA und gegen nationalkonservative Oppositionelle handelte. Währenddessen hielt der NS-Terror in Österreich unvermindert an, ebenso liefen die Putschvorbereitungen weiter. Endgültig grünes Licht gab Hitler am Sonntag, dem 22. Juli 1934 bei einer Besprechung in Bayreuth, wo er zu den Festspielen weilte.

Der gescheiterte Putsch und seine Folgen

Als Stichtag des Putsches war der 24. Juli 1934 festgelegt worden. An diesem Tag sollte die letzte Regierungssitzung vor der Sommerpause und der Reise des Kanzlers Dollfuß nach Italien stattfinden. Dass sich Dollfuß an diesem Dienstagnachmittag, schon halb in Urlaubslaune, spontan dazu entschloss, die Sitzung um einen Tag zu verschieben, führte letztlich dazu, dass das ganze Unternehmen scheiterte. Zwar konnten die Putschführer die bereits anlaufende Aktion noch im letzten Moment stoppen. Aber einer der Polizisten, die sich am Putsch beteiligen sollten, ein Revierinspektor der Wiener Sicherheitswache, bekam über Nacht Skrupel. Er verriet die ganze Sache am nächsten Tag, Mittwoch, den 25. Juli 1934, an die Heimwehr. Die Warnung wurde nicht so recht ernst genommen und gelangte erst mit Verspätung zum Bundeskanzler. Dieser – selbst äußerst skeptisch – unterbrach die bereits angelaufene Sitzung, schickte die Minister in ihre Ämter, blieb aber gemeinsam mit den für Sicherheit zuständigen Regierungsmitgliedern Fey und Karwinsky im Kanzleramt zurück. Abwehrmaßnahmen gegen die sich sammelnden Putschisten scheiterten unter oft grotesken Umständen. Auch den Putschisten unterliefen einige absurde Fehlleistungen.

Zwar gelang den rund 150 Angehörigen der SS-Standarte 89, verkleidet mit Uniformen des Bundesheeres, kurz vor 13 Uhr die Besetzung des Bundeskanzleramtes. Bei der Gefangennahme Dollfuß’ kam es – vermutlich – zu einem Handgemenge, bei dem sich aus der Pistole eines Putschisten ohne Absicht ein Schuss löste, der den Kanzler so unglücklich traf, dass dieser zweieinhalb Stunden später seiner Verletzung erlag. Der genaue Hergang wurde nie geklärt, denn in Wahrheit bestand im sich unter Schuschnigg neuformierenden Ständestaats-Regime gar kein Interesse an einer eingehenden Untersuchung der Todesumstände. Derartige kriminalistische Erhebungen hätten die noch am Abend des 25. Juli 1934 aus Gründen der Staatsräson in die Welt gesetzte These vom gezielten Mord nur untergraben können. Eine gezielte Ermordung Dollfuß’ durch die Nationalsozialisten ist allerdings auszuschließen. Der Tod der wichtigsten Geisel trug vielmehr entscheidend zum Scheitern des Putsches bei.

Schon am Abend ergaben sich die Putschisten. Die Besetzer der Rundfunkanstalt Ravag hatten bereits einigen Stunden vorher aufgegeben. Auch der SA-Aufstand, der schon am Nachmittag des 25. Juli in der Steiermark einsetzte und in den Folgetagen auf Kärnten sowie Teil Oberösterreichs und Salzburgs übersprang, scheiterte. Die Opferbilanz war verheerend: Rund 230 Personen auf Seiten beider Kampfparteien und unter Unbeteiligten kamen ums Leben.

Hitler harrte mit seinem Gefolge in Bayreuth aus und erwartete unter Bangen und Hoffen Nachrichten aus Wien – die nur spärlich eintrafen. Mussolini, der die Ehefrau und Kinder des getöteten österreichischen Kanzlers bei sich in Riccione zu Gast hatte, erteilte noch am Abend den Befehl, zwei Divisionen der italienischen Armee Richtung österreichische Grenze in Bewegung zu setzen. Das war ein überdeutliche Drohgeste an Hitler, der mit einer solchen Reaktion nach der Besprechung von Stra nicht gerechnet hatte und aus allen Wolken fiel. Einige Tage lang herrschte in Hitlers Hauptquartier regelrecht Panik, dass die Italiener aus dem Süden und die Franzosen aus dem Westen im Deutschen Reich einfallen könnten. Dem hätte die Reichswehr zum damaligen Zeitpunkt noch nichts entgegenzusetzen gehabt. Aber vor einem mutigen Präventivschlag gegen Hitler schreckten die europäischen Großmächte zurück – nicht zum letzten Mal.

Hitler reagierte auf das Desaster, für das er letztlich die Verantwortung trug, geschickt. Er tat alles, um alle Spuren zu verwischen, die zum ihm als eigentlichen Auslöser des Putsches führen konnten. Den Beteiligten und Mitwissern wurde ein striktes Schweigegebot auferlegt. Die in München residierende Landesleitung der österreichischen NSDAP ließ Hitler auflösen, ihre Unterlagen vernichten. Der gezielte NS-Terror gegen Österreich hörte fast auf.

Für den stets auf schwachen Beinen stehenden österreichischen Ständestaat bedeutete die Abwehr des Naziputsches vorübergehend eine gewisse Stärkung. Für die nächsten eineinhalb Jahre konnte Österreich auf die weitgehende Unterstützung durch Mussolini zählen. Aber die vom Völkerbund wegen des italienischen Überfalls auf Abessinien verhängten Handels­sanktionen zwangen Mussolini 1935 zur Annäherung an Hitler. Das deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1936, das Österreichs Unabhängigkeit entscheidend konterkarierte, war die logische Konsequenz dieser Entwicklung. Damit war der erste Schritt zum Anschluss getan. Hitler war es gelungen, die Niederlage, die er am 25. Juli 1934 in Österreich erlitten hatte, in einen Sieg umzuwandeln.

Weiterführende Literatur mit allen Quellen- und Literaturhinweisen:

Kurt Bauer: Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934. St. Pölten, Salzburg, Wien 2014 (Residenz Verlag).

Kurt Bauer: Hitler und der Juliputsch 1934 in Österreich. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Außenpolitik in der Frühphase des Regimes. In: Viertel­jahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 2, April 2011. S. 193–227.