Historische Broschüre

KÄRNTEN – ein Problem? (Hg. Kärntner Landesregierung; Autor Bernhard Scheichelbauer;1945)

In der Kategorie der sogenannten „grauen Literatur“ finden sich immer wieder besondere Gustostückerl. Eines davon ist die 1945 im Verlag der österreichischen Staatsdruckerei erschienene Broschüre „Kärnten – ein Problem?“.

Bernhard Scheichelbauer war studierte Jurist, trat später in den Militärdienst ein und machte den Ersten Weltkrieg als Frontsoldat mit. 1920 nahm er als Soldat am Kärntner Abwehrkampf teil. Er wurde später ständiger Mitarbeiter der Grazer „Tagespost“ der „Neuen Freien Presse“ und des „Neuen Wiener Tagblattes“. Ab 1930 leitete Scheichelbauer den Kärntner Landespressedienst. Von der NSDAP wurde er 1938 als „übelster und gehässigster“ Gegner des Nationalsozialismus in seiner Funktion abgesetzt und mit einem Gauverbot für Kärnten belegt. Er ging zunächst nach Meran und dann 1940 nach Wien, wo er sich später der Widerstandsgruppe „O5“ anschloss. Nach dem Krieg arbeitete er beim Bundespressedienst im Bundeskanzleramt, wo er zuletzt Chefredakteur war.

In der Einleitung zu seiner Broschüre schreibt Scheichelbauer wie folgt: „Zum 25 Male jährte sich am 10. Oktober 1945 der Tag, an dem die Bevölkerung des gemischtsprachigen Teiles von Kärnten in freier, von einer interalliierten Kommission auf ihre Korrektheit in streng kontrollierten Abstimmung sich entschied, ihr ferneres Schicksal nicht an Jugoslawien zu geben, sondern bei Österreich zu bleiben. Da somit die „Kärntner Frage“ durch den vornehmsten Entscheid gelöst wurde, den die Demokratie kennt – durch die unmittelbare Befragung des Volkes im Wege einer geheimen Abstimmung –, so müsste sie wohl als eine res judicata gelten. Umso verwunderlicher ist es, dass sich am Ende des Krieges 1939 bis 1945 neuerlich die gleiche „Kärntner Frage“ zeigt: von der gleichen Stelle aufgeworfen, mit den gleich weitergehenden und durch nichts zu begründenden Gebietsansprüchen und einem ähnlichen Versuch, durch gewaltsame Besetzung vollendete Tatsachen zu schaffen, wie es im Jahre 1918/19 geschehen ist. Wenn nach letzterer dank dem Eingreifen der englischen Besatzungsmacht sofort zunichte gemacht wurde, so tönen aus Laibach doch wieder die in Kärnten aus der Zeit vor 25 Jahren nur allzu gut bekannten Fanfaren. Es ergibt sich darum für Österreich und ganz besonders für das neuerlich bedrohte Land Kärnten die Notwendigkeit, anhand einer übersichtlichen kurzen Darstellung der Ereignisse und der Tatsachen, die zum Volksentscheid von 1920 führten, das unverletzliche Recht auf seinen ungeschmälerten Besitzstand gegenüber Jugoslawien zu erweisen.“

Bernhard Scheichelbauer skizziert die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg in Kärnten und geht auf die wichtigsten Problemfelder ein. Er zitiert den ehemaligen Direktor des Kärntner Landesarchivs Dr. Wutte folgendermaßen: „Südkärnten ist weder ethnisch noch sprachlich, noch kulturell, noch wirtschaftlich, noch nach der Gesinnung der Bevölkerung slowenischer Boden. Im Gegenteil ist es ethnisch und sprachlich ein Mischgebiet, sonst aber durch Kultur und Geschichte, durch Wirtschaft und Verkehr und durch die Gesinnung der Bevölkerungsmehrheit deutscher Boden, der zum slowenischen Süden nur lose Beziehungen hat. Dieser Zustand ist nicht das künstliche Erzeugnis einer gewaltsamen Eindeutschungspolitik und nicht eine Schöpfung der jüngsten Zeit, sondern das natürliche Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung und der geographischen Verhältnisse des Landes. Es wäre daher eine Ungerechtigkeit, wenn Südkärnten bedingungslos und ohne Volksbefragung an Südslawien angeschlossen würde. Die Gerechtigkeit fordert, dass Südkärnten das Recht zugestanden werde, selbst über seine künftige staatliche Zugehörigkeit zu entscheiden.“

Bernhard Scheichelbauer erläutert die Vorgeschichte und die Bedingungen zur Volksabstimmung sowie deren korrekte Durchführung. Er verweist auf die ständigen Störaktionen der Regierungsstellen in Laibach, aber auch auf die versöhnliche Stimmung nach der Volksabstimmung wenn er schreibt: „Begreiflicherweise hatte der Kampf um die Volksabstimmung und die Vorgänge während ihrer Vorbereitung eine gereizte Atmosphäre erzeugt, die auch späterhin infolge ständiger Angriffe aus Laibach nicht ganz ausgeglichen werden konnten. Auch erwiesen sich die politischen Führer der in Österreich verbliebenen slowenischen Minderheit als wenig begabt. Es muss jedoch festgestellt werden, dass alle Kundgebungen, die vom Landtage und der Landesregierung nach der Volksabstimmung erlassen wurden, in durchaus versöhnlichem Sinne gehalten waren. Niemand wurde wegen der Vorfälle während der Besatzungszeit oder wegen seiner Stimmenabgabe belästigt; niemand wurde vertrieben. Insgesamt waren es 32 Lehrpersonen und 24 Geistliche, die im Jahre 1920 freiwillig außer Landes gingen, darunter 16 Nicht-Kärntner, die danach zurückkehrten.“ (Dazu im Gegensatz ein Artikel in der Onlineversion der Tageszeitung „Der Standard“ vom 14. Oktober 2020).

Ausführlich erklärt Bernhard Scheichelbauer die nunmehrige Stellung der Kärntner Slowenen innerhalb des Landes Kärnten, wenn er meint, die Kärntner nationalen Slowenen besaßen von Anfang an in allen politischen, rechtlichen und kulturellen Angelegenheiten die volle Gleichberechtigung mit den übrigen Landesbewohnern. Den Fragen einer slowenischen Kulturautonomie, aber auch den Problemen zur Schulgesetzgebung gibt er breiten Raum. Er verschweigt die 1945 bestehenden und nicht gelösten Probleme keineswegs, verweist aber auf die seiner Meinung nach unrichtigen und unwahren Behauptungen seitens der slowenischen Abgeordneten.

Bernhard Scheichelbauer erläutert auch die Bemühungen Bundeskanzler Schuschniggs während des österreichischen Ständestaates für eine Lösung in der Schulfrage bzw. im gesamten Minderheitenwesen in Kärnten tätig zu werden. So kam es im Jahr 1937 nach einer Besuchsreise des Bundeskanzlers im gemischtsprachigen Teil Kärntens zu einem ziemlich weitgehenden vorläufigen Übereinkommen, welches unter anderem einvernehmlich mit den Slowenen festlegte, welche Gemeinden als slowenisch, welche als gemischtsprachlich und welche als eingedeutscht zu gelten hätten. Über ausdrücklichen Wunsch der Slowenen sollte auch in den Schulen der slowenischen Gemeinden neben der slowenischen die deutsche Sprache gelehrt werden.

Die Okkupation Österreich durch das nationalsozialistische Deutschland streift Bernhard Scheichelbauer kurz und erläutert die Folgen für die in Kärnten lebenden Slowenen. Mehr Raum gibt er den Problemen, die gleich nach der Niederwerfung des nationalsozialistischen Regimes durch Jugoslawien entstanden sind. Dieses beanspruchte nämlich, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, gewisse Teile Kärntens. Dagegen wehrte sich die Landesorganisation der Sozialistischen Partei Österreichs in Kärnten– die zahlenmäßig am stärksten im konsultativen Kärntner Landesausschuss vertretene politische Partei –, welche darauf unter anderem antwortete: „Bezugnehmend auf die territoriale Frage Kärntens stützt sich die Sozialistische Partei auf die Beschlüsse der alliierten Mächte, wonach die volle Freiheit und Selbständigkeit Österreichs im Sinne der Verfassung von 1920 zugesichert wurde. Die Bevölkerung des gemischtsprachigen Gebietes hat in der am 10. Oktober 1920 durchgeführten Volksabstimmung ihren freien Willen Ausdruck gegeben und sich zur freien Republik Österreich bekannt. Diese Volksabstimmung fand im Sinne des Selbstbestimmungsrechts statt und wird von uns auch heute als rechtswirksam anerkannt. Territorial ist der verfassungsmäßige Zustand von 1920 wiederhergestellt. Die Kärntner Slowenen sind somit österreichische Staatsbürger. Es steht Ihnen nach unserer Rechtsauffassung dieselben verfassungsmäßigen Rechte zu wie allen übrigen Staatsbürgern. Gegen eine Teilnahme der Kärntner Slowenen in Verwaltung, Wirtschaft und sonstigen Körperschaften ist nichts einzuwenden, wenn diese sich zur freien Republik Österreich bekennen.“

Auch in der Schulfrage hatte die Kärntner Landesregierung durch einen am 11. November 1945 veröffentlichen Erlass völlig neue Wege beschritten. Als Vorbild diente ihr dabei die Schweiz. Während die frühere „utraquistisch Schule“ nur das slowenische Kind verpflichtete Deutsch zu lernen, wird durch die neue Verordnung eine zweiseitige Verpflichtung geschaffen: Kinder beider Volksteile müssen beide Landessprachen lernen. Es handelt sich also um eine Zweisprachigkeit der Schuljugend in den gemischtsprachigen Teilen des Landes.

Bernhard Scheichelbauer resümiert in seiner Erkenntnis folgendermaßen: „ (…) die territoriale Situation ist durch die Volksabstimmung des Jahres 1920 ein für alle Mal entschieden worden.“ Und weiter: „es gibt keine die slowenische Minderheit in Kärnten betreffende Frage, die bei gegenseitigem Entgegenkommen nicht innerhalb der Landesgrenzen in vernünftiger Form gelöst werden könnte. Im Augenblick, in dem sich die slowenische Minderheit auf dem Boden der Tatsachen stellt – loyale Staatsbürger in einem sie loyal behandelten Österreich zu sein und die Laibacher Bevormundung abzuschütteln – und das Allslawentum seine Versuche aufgibt, auf einem Schleichweg das „unerlöste Kärnten“ an sich zu reißen: also, ebenfalls die von 1920 durch die Volksabstimmung geschaffene Lage loyal anerkennt, wird es in Kärnten keinerlei Schwierigkeiten mehr geben. Dass diese Voraussetzungen gemacht werden, darf nicht als Anmaßung ausgelegt werden.“

Bernhard Scheichelbauer hat diese Broschüre sicher im Auftrag der Kärntner Landesregierung verfasst. Dies ist umso deutlicher sichtbar, weil es eine zweite (erste) Fassung in englischer Sprache gibt, „Carinthia –  a Problem”, auch im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1945 in Wien erschienen und in dieser Form im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek vorhanden. Sie sollte sicherlich der englischen Besatzungsmacht eine Entscheidungshilfe geben im positiven Sinne für Kärnten und gegen die jugoslawischen Forderungen. Die große Sachkenntnis des Autors, die genaue historische Darstellung und der Detailreichtum machen die Broschüre für Historiker und Politologen wichtig und bieten eine Basis für weiterführende Forschungen. Allerdings muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Studie ein Auftragswerk der Kärntner Landesregierung war, dadurch einen bestimmten Zweck erfüllen sollte und dass neue Forschungen doch auch andere Sichtweisen und Ergebnisse aufweisen können. Dennoch ist die Bedeutung dieser weitgehend unbekannten Schrift nicht zu unterschätzen.

(Prof. Dr. Michael Dippelreiter, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des KvVI

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